Bild: architects.ch
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  • Nathan Leuenberger
  • Aktualisiert am

Erlenmatt: Nicht unsympathischer Schmelztiegel wird erwachsenenes Basler Quartier

Basel, eine Schlaftstadt. Das zeigt derzeit kein Quartier so exemplarisch wie die Erlenmatt: Wo früher die Generation Rave abfeierte, da wohnt sie heute. Schön ruhig, mit etwas Grün und Kindern. Aber ist das denn so schlimm?

Bässe wummern, Menschen tanzen, Schweiss liegt in der Luft. Irgendwo brennt ein Feuer. Oder zwei. Bierflaschen liegen teils in Einzelteilen verteilt auf dem Schotter am Boden. Die Stimmung ist auf dem Siedepunkt, es soll noch bis ins Morgengraue gefeiert werden zwischen Containern und alten Lagerhallen. Der Tag danach ist egal, irgendwann kommt er schon, in ferner Zukunft, es ist egal, denn hier ist man im Jetzt. Alles ein einziger Moment, in einem Ozean aus Klang und Körper, Schweiss, Rauch, Leben.

Schnitt. Eine geteerte Fläche. Ein Kinderlachen hallt über die grosszügige Fläche, prallt an Neubauten ab, die innert kürzester Zeit hochgezogen wurden. Es ist ruhig, entspannt, familiär. Aus der Ferne das Klingeln eines abfahrenden Trams. Es geschieht vor den neu errichteten Häusern (noch) nicht gerade viel. Hierhin zieht sich zurück, wer weg vom lauten Stadttrubel will und trotzdem nahe von Basels Zentrum leben möchte.

Eine Erlenmatt, zwei Bilder. Geografisch ein und der selbe Ort. Den Unterschied bilden wenige Jahre dazwischen. Aus prallem, oft überbordendem Leben wurde Heimat für junge Familien mit der dazu gehörenden gesunden Portion Beschaulichkeit. Aus Überfluss an Improvisation und nicht immer nur innovativer Kreativität, eine Hochburg der Mässigung. Aus Studenten, die sich den Clubeintritt nicht leisten wollten, wurden Doppelverdiener mit Geschirrwaschmaschine. Was bitte soll daran falsch oder gar spiessig sein? Die pubertierende Erlenmatt ist erwachsen geworden. 

Am Anfang: Ein lärmiger Güterbahnhof

Ursprünglich beherbergte die Erlenmatt den Güterbahnhof der Deutschen Bahn (DB). Während fast eines ganzen Jahrhunderts war das gut 19 Hektaren grosse Areal für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Schon bevor der heute fest zum Stadtbild gehörende Badische Bahnhof von Karl Moser eröffnete, zeigte sich hier die DB stark präsent, verlud Güter, nutzte die Schiene.

1989, im Jahr des Mauerfalls, gab die Deutsche Bahn bekannt, dass sie den Güterbahnhof aufgeben werde. Was danach kommen sollte, war lange ungewiss. Kurz vor der Jahrtausendwende wurden städtebauliche Wettbewerbe durchgeführt und schnell klar: hier soll künftig modern und ruhig gewohnt werden, mit vertretbarer Redite. Dennoch passierte vorläufig nichts. Die Wohnbauten rückten in immer fernere Zukunft: Man sprach von Baubeginn 2007. Das schien damals noch unheimlich weit weg. Also begann eine spannende Zeit der Erlenmattgeschichte mit der Gründung des Vereins «k.e.i.m.».

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Das NT/Areal

«k.e.i.m.» zeichnete vorübergehend offiziell für das Areal verantwortlich: Eine Zwischennutzung also, oder auch ein «non territorial», was damals als «NT» abgekürzt wurde. Schnell verwandelt sich die Erlenmatt vom Industriebahnhof zum Schmelztiegel verschiedener Jugendkulturen: Zwischen den Gleisen wurde getanzt, gesprayt, gekifft und geliebt. So manch junger Gastrounternehmer verdiente sich hier seine Sporen ab und eine zumindest vergoldete Nase. Clubs wurden eröffnet, wieder geschlossen, illegale Partys organisiert und von der Polizei beendet. Trendsport wie Skaten und BMX fahren trafen hier auf die Basler Rave-Kultur. Nächte wurden durchgefeiert, am Morgen gleichenorts gebruncht. Ein eigenes Radio ging stundenweise ohne Konzession on air. Doch Konzessionen interessierten ausser die Ordnungshüter ohnehin niemand auf dem brachen Gelände.

Auch auf dem NT/Areal: ein BMX-Pumptrack

Trotz dem umstrittenen Status war das  NT/Areal kein Geheimtipp für Eingeweihte – hier traf sich Hinz und Kunz: Soziale Stadtentwicklung auf Zeit. Klar war nur, es wird nicht für ewig anhalten. Doch die von Anfang an akzeptierte «Zwischennutzung» dauerte an. Gebetsmühlenartig hallte ein Abgesang auf das NT/Areal durch die Medien, jedes Jahr schien das letzte zu sein. Und doch ging es vorläufig weiter. Erst als 2007 die ersten Bagger auffuhren, wurde den Besuchern die Vergänglichkeit des Projekts bewusst. Zwei Jahre später endete der Zwischennutzungsvertrag zwischen der Stadt und dem Verein. Club und Restaurant «Erlkönig» wollten noch zwei Saisons weitermachen und sind heute unter dem Namen Bahnkantine beliebter Treffpunkt der neuen Erlenmatte.

Ausser für die inzwischen gehobene Gaststätte, war im Sommer 2011 definitiv Schluss. Die letzten Reste der Vergangenheit, welche nun zwischen Baustellen langsam ausklangen, wurden zusammengesucht und in die Nostalgiekiste versorgt. Die wilden Zeiten waren vorbei. Eine neue Zeit hatte begonnen. Schlechter musste sie deshalb nicht sein.

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Wohnen und Arbeiten: Basel erfindet das moderne Quartier

Zunächst kam das Quartier nicht so ganz in die Gänge. Die Arbeiten gingen schleppend voran, erst 2013 legte die Bauherrschaft den Turbogang ein. Innert weniger Jahre wurden auf dem grossflächigen Areal Wohnkomplexe errichtet, Wiesen angelegt und grosszügige Parkanlagen als Erholungszonen geschaffen. Eine Tramlinie sollte durchs neue Erlenmatt-Quartier führen, wurde aber vom Stimmvolk an der Urne mit knapp 51,6 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt. Heute wäre das Resultat wohl ein anderes. Denn schon 2016 sind ein Grossteil der Wohnungen bezugsbereit. Der Westteil ist vollendet.

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Nun wird kräftig an «Erlenmatt Ost» gebaut. Nachhaltiges Quartierleben mit geringer Wohnfläche, eine «2000 Watt-Gesellschaft». Auf Parkplätze und Garagen wird verzichtet, die Losung lautet: Wenn immer möglich mit Velo oder zu Fuss unterwegs. Gemeinschaftsräume entstehen, in denen von den Bewohnern Feste, Lesungen, ein Flohmarkt, aber auch einfach fröhliche Veranstaltungen organisiert werden können. Es hat sich «ausgeravet», hier wird in Zukunft das Familienleben zelebriert. Das Fest findet nun auch tagsüber statt, mit Kindern, Velohelm und Menschen, die eine genaue Vorstellung Ihrer Zukunft haben.

Das ist Stadtentwicklung. Zwingend in einem Kanton, der kaum Baulandreserven hat. Für eine Stadt, die dennoch wachsen will und das urbane Leben fördert. Die Partys sind deswegen nicht vorbei, aber sie haben sich verändert. Nicht zu knapp: Die Generation Rave hat jetzt Kinder. Sie wohnt in ruhiger zentrumsnaher Stadtlage. Dort, wo sie früher jedes Wochenende im Lärm der Glückseligkeit getanzt hatte, zieht neues, mindestens genau so wertvolles Leben ein. Für Leute die den Begriff «Zwischennutzung» nicht verstehen wollen «Füdlibürger». Bloss dass diese toleranter sind, als ihre Vorgänger.

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