• Christine Staehelin
  • Aktualisiert am

Gefängnisseelsorgerin im Waaghof: Blick in die Abgründe des Lebens

Die Gefängnis-Seelsorgerin Franziska Bangerter Lindt geht zu Straftätern und redet mit ihnen. Egal, ob sie Einbrecher, Sexualverbrecher oder Mörder sind. Wahrhaft kein alltäglicher Job. Einmal pro Woche reist die Bernerin nach Basel und besucht die Insassen und zahlenmässig kleinere Gruppe von Insassinnen im Basler Untersuchungsgefängnis Waaghof.

Seit zwanzig Jahren arbeitet die Theologin Franziska Bangerter als eine von zwei Gefängnis-Seelsorgerinnen in Basel-Stadt. Pro Woche geht sie einmal ins Untersuchungsgefängnis Waaghof. Dort trifft sie auf Insassen, die das Gespräch mit ihr suchen. Die Gründe für die gewünschten Aussprachen sind sehr verschieden. Zum Beispiel, um über die generelle Situation im Gefängnis besprechen oder über die grossen Fragen des Lebens sinnieren. Dafür braucht es Mut, Ausgeglichenheit und eine grosse Menschenliebe. Franziska Bangerter stellte sich dieser Herausforderung bewusst. Nach ihrem Theologie-Studium arbeitete sie als Gemeindepfarrerin und anschliessend mit Flüchtlingen und Migranten. Danach liess sie sich zur Spital- und Gefängnisseelsorgerin weiterbilden. 

«Es ist wichtig, gute und qualifizierte Arbeit zu leisten», sagt Franziska Bangerter. Dazu gehöre auch, den Insassen den Kopf zurechtzurücken. Keine leichte Aufgabe für eine Frau, einem grossen durchtrainierten, tätowierten Straftäter die Leviten zu lesen. «Manchmal muss ich sagen: Die Füsse auf den Boden, das Gehirn einschalten und nochmals hinterfragen, was gesagt worden ist», sagt sie. Zum Beispiel, wenn sich ein Insasse beklagt, er sei lediglich inhaftiert, weil er Ausländer sei. «Dann sage ich klar und deutlich: Das stimmt nicht». Aber auch in solchen Situationen werde sie respektiert. 

Wenn ein Straftäter weint

Die Seelsorgerin ist so etwas wie der Kummerkasten des Untersuchungsgefängnisses, aber auch eine wichtige Vertrauensperson. «Die Insassen reden gerne mit der Seelsorge, wir sind an die Schweigepflicht gebunden», sagt Franziska Bangerter. Sie ist ein Gesprächspartner, hilft beim Zurechtfinden mit der neuen Situation. Die Insassen bitten meist selbst um einen Besuch. Manchmal weisen die Gefängnismitarbeiter die Theologin auch auf Untersuchungs-Häftlinge hin, die beispielsweise einen Gerichtstermin vor sich haben. «Ich rede mit den Insassen und plötzlich fällt bei ihnen die Fassade». Aus einem Macho werde etwa ein unsicherer Mann. «Manchmal weinen sie. Bei mir können sie endlich reden». 

Die Tat schadete Menschen

Oft erzählen die Inhaftierten beim Seelsorge-Gespräch ihre Version des Deliktes. «Es ist nicht an mir zu beurteilen, ob etwas stimmt oder nicht», sagt Franziska Bangerter. Das sei die Aufgabe der Staatsanwaltschaft. Es komme aber vor, dass dem Insassen erst durch die Gespräche die Tragweite seiner Tat bewusst wird. «Zum Beispiel, dass es nicht darum geht, dass einer alten Dame die Handtasche weg gerissen worden ist, sondern diese Dame nun jedes Mal Angst hat, auf die Strasse zu gehen», so Franziska Bangerter. Oder jener Inhaftierte, der seit Monaten eine Version des Deliktes erzählt, in der er sich selber als Opfer darstellt. Vor kurzem erzählte er Franziska Bangerter dann die wahre Version, noch bevor er es seiner Therapeutin anvertraute. Die Theologin stellt jedoch klar: «Ich möchte nicht nur auf dem Delikt herumhacken, sondern auch die positiven Seiten eines Menschen unterstützen».

Kein Imam-Seelsorger

Die Gefängnisseelsorge Basel-Stadt wird von der evangelisch-reformierten Kirche organisiert. Franziska Bangerter sagt klar und deutlich: «Ich missioniere nicht und verteile mindestens so viele Korane wie Bibeln». Nach einigen Wochen in Haft stellten sich den Inhaftierten oft die grossen Lebensfragen. Da kann die Gefängnisseelsorgerin weiterhelfen, die Insassen können nicht einen Seelsorger für ihre Religion wählen. In Basel gibt es beispielsweise keinen Imam, der als Gefängnisseelsorger arbeitet. Wenn ein Imam in das Gefängnis geht, gilt er als Besucher und kann deshalb nur durch eine Trennscheibe mit dem Straftäter reden. Dass sich dies in Zukunft ändern könnte, zeigen zwei Beispiele aus Bern und Zürich: In der Bundes-Hauptstadt macht zurzeit ein muslimischer Theologe die Ausbildung zur Gefängnisseelsorge und wird dann erster muslimischer Vertreter dieses Berufs der Schweiz sein. Der Kanton Zürich finanziert zurzeit ein Pilotprojekt für die muslimische Notfallseelsorge im Spital. 

Man findet immer einen Weg 

Die Hürde sei nicht nur die Religion, sondern oft auch die Sprache. «Ich spreche Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch», sagt Franziska Bangerter. Manchmal stösst sie dennoch an ihre Grenzen. An einen besonderen Fall vor einigen Jahren erinnert sich die Seelsorgerin noch gut. «Ein Chinese war im Gefängnis Bässlergut inhaftiert und konnte mit niemandem kommunizieren. Es ging ihm psychisch nicht gut, ich sollte ihn besuchen. Da ich auch kein Chinesisch kann, nahm ich einen Sinologen mit. Als dann der Inhaftierte zu sprechen begann, der Schock des China-Experten: «Ich verstehe kein Wort, er spricht einen anderen Dialekt». 

Die Gefahr der Instrumentalisierung

Es ist ein ungewöhnlicher Beruf, in einer Welt, die den meisten fern ist. Doch alleine ist Franziska Bangerter nicht. Sie wird von einer Supervisorin begleitet. «Es ist wichtig, dass man nicht instrumentalisiert wird und eine gewisse Distanz wahren kann», sagt die Seelsorgerin. Eine Ausgeglichenheit müsse man haben, sonst würde der Beruf sehr schwierig. «Die Insassen haben ein gutes Gespür und nutzen es aus, wenn jemand nicht mit sich im Reinen ist», sagt Franziska Bangerter. Sie findet den Ausgleich in ihrer Familie und in der Natur. «Ich achte auch auf mich selbst, auf genügend Schlaf, Bewegung und frische Luft. Ich habe das Glück, einen tollen Mann und Kinder an meiner Seite zu haben».

Zuneigung für die Menschen am Rande der Gesellschaft 

Weshalb hat sie diesen ungewöhnlichen, herausfordernden Beruf gewählt? «Ich habe eine Zuneigung für Menschen am Rande der Gesellschaft», sagt sie und betont: «Natürlich bin ich gegen Straftaten. Aber die Arbeit ist spannend und abwechslungsreich. Durch diese Arbeit konnte ich einen Blick in die Abgründe der menschlichen Seele werfen und habe entdeckt, wie privilegiert ich aufgewachsen bin. Das ist nicht mein Verdienst, sondern ein Geschenk des Lebens».

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