Dazu noch ein Kaffee. ©Alle Bilder Facebook / SBB Historic
Dazu noch ein Kaffee. ©Alle Bilder Facebook / SBB Historic
  • Andreas Schwald
  • Aktualisiert am

Gegen den Pendlerstress: Als Zugfahren noch Grösse hatte – von Plumpsklos, Basler Buffets und Stopps im Gaggo

Zugfahren war natürlich schon immer eine enge Sache. Aber die Grandezza, der Stil von früher fehlt in der Modernisierung von heute. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass die Züge der SBB nicht schnittig-modern aussahen, sondern von der Erhabenheit des Bahnreisenden zeugten, während die Sitze noch deutlich härter waren.

«Der Kluge reist im Zuge.» Was war das für ein Satz. Er hallte durch die Jahrzehnte, stand für den Komfort der Schienenreise, als der Zug zum mitunter schnellsten Transportmittel gehörte, das verfügbar war. Der Bau der Autobahn war noch in weiter Ferne, der Gotthard-Tunnel zeugte von der Spitze ingenieurstechnischer Entwicklungen und die Schweizer lehnten sich im Erstklasswagen zurück und rauchten eine Zigarette.

Das Perronbuffet dritter Klasse in Basel, 1949.

So lange ist das noch gar nicht her, was die SBB auf ihrer Facebook-Site «SBB Historic» regelmässig präsentieren.. Erst seit den 2000er-Jahren hat sich die Bahn massiver Modernisierungen unterzogen. Wir aber wuchsen noch mit Raucherabteilen in den Waggons auf, mit laut holpernden Zugskombinationen, mit Erstklasswagen, die holzgetäfert waren und die schweren Plüschüberzüge der Sitze harmonisch warm ergänzten. Die Minibar war unerlässlich, denn die Fahrt in den Tessin war lang und laut und in den Tunneln etwas stickig. Erst in Mendrisio holten uns die Grosseltern ab, nach rund fünf Stunden Fahrt.

Ein Speisewagen mit Stil. Man beachte aber: Aschenbecher überall.

Eigentlich waren wir keine Erstklasskunden, aber für diese Reise leistete es sich Mutter. Fünf Stunden sind eine lange Zeit mit zwei kleinen Kindern. In Bellinzona streckten wir den Fahrgästen eines anderen Zuges die Zunge raus und waren dann überrascht und auch beschämt, als eine gesittete und adrett gekleidete Italienerin es uns gleich tat. Wir versteckten uns unter der Bank des Fensters mit den zwei Knopfgriffen, das mit viel Kraft nach unten gewuchtet worden war.

Der Kluge reist im Zuge, die Klügere schläft.

Heute? Sitzenbleiben, Fenster bleiben geschlossen, denn alles ist klimatisiert, der Halt an den Zwischenstationen reicht nicht mal mehr für eine Zigarette vor dem grossen Tunnel. Der ist kurz geworden, seit die Geschwindigkeiten zugenommen haben. Die SBB werden moderner, das Rollmaterial immer ausgeklügelter und unsere Ansprüche steigen. Lange Zugfahrten mit Stopps irgendwo im Gaggo sind wir nur noch vom Ausland gewöhnt, in der Schweiz ist das undenkbar. Das Schienennetz ist dicht befahren, wir haben Halbstunden-, sogar Viertelstundentakt zwischen den Städten und fällt einmal ein Zug aus, sind wir empört und rufen aus.

Bei Muttenz, in den 1930er-Jahren: Ein ausrangierter Personenwagen, der zur Wohnung umfunktioniert wurde.

Im Bahnhofsbuffet wartet auch keiner mehr. Dort kehrt man noch ein, um gediegen zu speisen oder den Prunk alter Zeiten zu atmen, die Grandezza der Fünzigerjahre, des Wirtschaftsbooms, als der kleine Mann ein ganz grosser war, wenn er sich die Zugfahrt gönnte. Es war wie mit dem Fliegen: Man war plötzlich mobil und die Gesellschaften boten dem anspruchsvollen Kunden einiges, auch an zwischenmenschlichem Service. Der Mensch wurde zum Homo Mobiliensis. Vielleicht war er ja gerade im Drittklassbuffet am Basler Bahnhof dinieren, gefahren ist er dann aber, dank seiner Reserven, erste Klasse. Weil er es sich leisten wollte. Reisen war in und die Züge bildeten den Stolz einer ganzen Nation.

Autoverlad am Gotthard zu Karfreitag 1956.

Und diese Luft. Dieser strenge Duft aus frisch gekoppelten Hochspannungsleitungen und rostigem Schienenabrieb, der am Bahnhof in der Stadt noch so schwer und drückend wog und wenige Stunden später in der Alpenluft zum Geruch von Welt und Weitschweifigkeit wurde. Als der Gang aufs Klo noch ein Kraftakt war – nur ausserhalb von Bahnhöfen! –, denn der Waggon ruckelte stets und unten blickte man während des Geschäfts auf die passierenden Bahnschwellen, tacktacktack, flirrend, bedrohlich und fesselnd. Da war sie wieder, diese Kraft des Triebwagens, die den ganzen Zug durchschüttelte, und diese Unmittelbarkeit des Menschen, umhüllt von Stahl und nur dank kontrollierter Geschwindigkeit auf den Schienen gehalten. Kein Knopfdruck, nirgends, nur dieses Fusspedal, mit dem man die Spülung zu bedienen hatte. Vor dem Fenster zum dritten Mal das Kirchlein von Wassen.

Minibar! Minibar! Damals wurde gerne noch die Zigarette gereicht. Der Aschenbecher befand sich jeweils in der Armlehne des Sitzes.

Zeitreise. Es ist, als ob man mit einer eleganten Handbewegung den Türgriff nach unten schwingt und mit Muskelkraft das enge Türchen aufstemmt. Wenn auf dem Perron, dort unten im sonnenverbrannten Mendrisio, die Grosseltern stehen, man aus dem Zug torkelt und weiss: jetzt ist man da. In der Fremde, die doch irgendwie Heimat ist. Dann einsteigen in den braunen alten Audi, der immer nach Hund riecht, auf der Rückbank erst recht. Und während sich die Limousine den Hügel hochwindet ein letzter Blick auf die Strecke, die einem direkt nach unten, in den Süden, gebracht hat. In den Ohren, in den Knochen immer noch das Rattern der Waggons.

Das alte Durchsage-Häuschen am Bahnhof Basel um 1944. Von hier aus wurden die Lautsprecher angesteuert.