Historiker Achatz von Müller «Heute wissen wir, wie recht Jacob Burckhardt hatte». Credit: Leuphana
Historiker Achatz von Müller «Heute wissen wir, wie recht Jacob Burckhardt hatte». Credit: Leuphana
  • Christine Staehelin

Kult-Historiker Achatz von Müller: «Heute wissen wir, wie sehr Jacob Burckhardt recht hatte »

Jacob Burckhardt, der Basler auf der tausender Note, würde dieses Jahr am 25. Mai den 200. Geburtstag feiern. Der Historiker Achatz von Müller sprach mit barfi.ch darüber, weshalb Jacob Burckhardt lieber in Basel als in Berlin war, warum seine Schriften nach wie vor aktuell sind und wie das Verhältnis zu Friedrich Nietzsche war.  

Christine Staehelin: Herr von Müller, Sie sind Historiker und im Vorstand der Jacob Burckhardt-Stiftung in Basel, dieses Jahr würde der Basler Historiker seinen 200. Geburtstag feiern. Beginnen wir mit der Frage: Wer war eigentlich Jacob Burckhardt? 

Achatz von Müller: Er ist sicher der bedeutendste Historiker der Schweiz. Nun kann man fragen: Was heisst bedeutend? In diesem Fall lautet die Antwort ganz klar. Er ist der meist-zitierte und der international erfolgreichste Historiker. Sein Hauptwerk «Die Cultur der Renaissance in Italien» wurde in alle möglichen Sprachen übersetzt, so zum Beispiel alle europäischen, aber auch sogar ins Japanische. Jacob Burckhardt war der erste europäisch orientierte Historiker, der die Renaissance definiert hat. Aber er ist eben auch deswegen der bedeutendste Schweizer Historiker, weil er als erster eine Theorie der Kulturgeschichte entwickelt hat.

Die neue 1000-Franken-Note wurde am Mittwoch den 25. März 98 in Bern vorgestellt. Die grösste Schweizer Banknote mit violetter Grundfarbe ist dem Basler Kunst- und Kulturhistoriker Jacob Burckhardt gewidmet. (© Keystone)

Er definierte drei Mächte, die den Lauf der Geschichte Europas stimulieren: Kultur, Religion und Staat. Ist diese Theorie noch aktuell? 

Er hat die Rolle der Kultur im Kontext von synthetischen historischen Mächten, er nannte sie die drei Potenzen, näher betrachtet und definiert: Kultur, Staat und Religion. Lange Zeit hat man die Religion nicht mehr überzeugend gefunden. Doch heute wissen wir, wie recht Jacob Burckhardt hatte. Die Religion ist eben wirklich eine historische Potenz und zugleich eine furchtbare Macht. Nach Burckhardt müssen alle drei Potenzen ausgewogen miteinander wirken, um historische Katastrophen zu vermeiden.

Jacob Burckhardt war Historiker. Weshalb ist er heute noch aktuell?

Er war immer an Krisen und Umbruchszeiten interessiert, das macht ihn auch so modern. Ihn interessierten diese Momente, wenn die alte Ordnung nicht mehr stimmte und etwas Neues, noch Unbekanntes aufdämmerte. Sein frühestes Werk handelte über die Zeit Konstantin des Grossen im Kontext des aufkommenden Christentums. In der Renaissance ging es ihm um die Macht der Moderne, so besonders um die Erfindung der Machtpolitik, des Individuums sowie die moderne Ästhetisierung von Politik und Gesellschaft. Seine Darstellung war übrigens nicht abstrakt, sondern stets sehr anschaulich. Jacob Burckhardt war ein grosser Stilist. Das Eingängige und Exemplarische war ihm wichtiger als irgendwelche Abstraktionen. Dies ist auch sehr sympathisch (lacht).

Weiss man, weshalb ihn genau diese unsicheren Zeiten, ob nun Krisen- oder gebrochene Machtstrukturen, wissenschaftlich interessiert hatten?

Dafür muss ich eine Hypothese wagen. Er selbst stammt aus einer Daig-Familie. Burckhardt, mit ck-dt. Aber aus dem armen Teil der Familie. Sein Vater war ein Geistlicher und hatte keinerlei Verbindung zu den reichen Verwandten. Jacob Burckhardt ist deswegen sehr früh mit den Brüchen in Lebensstrukturen vertraut geworden; man gehörte irgendwie dazu, aber dann wiederum auch nicht. Diese Erfahrung hat ihn sicher stark geprägt. Die Krisenerfahrung geht, so glaube ich, auf einen persönlichen Schicksalsschlag zurück. Er hat als zwölfjähriger seine Mutter verloren. Damit verbunden war ein völliger Umbruch in der engsten Familie. Er hat schmerzlich erleben müssen, wie einem die Felle wegschwimmen. Wie sich die Welt verändert, wenn eine wichtige Stütze fehlt.

Jacob Burckhardt um 1840 

 

Jacob Burckhardt lebte selbst während einer Zeit des Umbruchs, als sich die Schweiz zum parlamentarischen Bundesstaat entwickelte. Gleichzeitig war die Situation in Basel turbulent, da sich das Land vom Stadtkanton trennte. Inwiefern beeinflusste diese Situation seinen Lebenslauf?

Er war ein Kind der Erneuerung der Schweiz, mit all den Risiken, die damit verbunden waren. Man kann sogar sagen, dass er vor diesen Unsicherheiten geflohen ist. Er studierte zunächst Theologie in Basel. Doch 1839 ging er plötzlich, aber selbstverständlich in Absprache mit seinem Vater, nach Berlin. Er wollte dem Zwangskorsett in der Schweiz entkommen.

Was machte der junge Jacob Burckhardt in Berlin?

Berlin war für ihn eine Befreiung. Hier konnte er seiner Leidenschaft für Kultur und Geschichte nachgehen. Hier traf er auch auf eine ganz andere Welt. Berlin bedeute für ihn eine Grundprägung. Neben noch spätromantischen Gesellschaftsteilen, traf er auf grosse bedeutende Historiker, zum Beispiel den damals wohl modernsten Historiker Europas, Leopold von Ranke. Durch ihn kam er in Berührung mit dem damals gänzlich neuen Historismus und dem mit diesem verbundenen Totalzugriff auf Geschichte. Das heisst, das gesamte Material, das historisch greifbar war, galt als historisch relevant. Man arbeitete nicht mehr nur mit historiographischer Überlieferung. Seine akademischen Qualifikationsarbeiten, heute sind dies die Dissertation und Habilitation, wurden von Leopold von Ranke angeregt.  

Beide Arbeiten wurden in Basel angenommen, 1843 promovierte Jacob Burckhardt. 1858 übernahm er den Lehrstuhl für Geschichte an der Universität Basel. Weshalb kehrte er Berlin den Rücken?

Er wollte den Machtzwängen, die er immer stärker im Aufstieg Preussens verspürte, entkommen. Er hatte eigentlich ein positives Bild der romantischen Berliner Gesellschaft. Der Historiker Leopold von Ranke und der Kunsthistoriker Franz Kugler, dessen Anstössen auch Burckhardt als Kunsthistoriker vielleicht zu verdanken ist , schliesslich übernahm er auch in Basel 1867 das Ordinariat für Kunstgeschichte, aber auch der Dichter Josef von Eichendorff schienen ihm wie Abgesandte aus einer schönen und liebenswerten Zeit. Doch dem Aufstieg Preussens zur dominanten Macht misstraute er. Jacob Burckhardt betrachtete die Militarisierung der Gesellschaft mit Argwohn. Als er 1872 den Ruf auf die Nachfolge Rankes nach Berlin erhielt, sagte er ab. Wie er seinem Freund Preen schrieb, werde mit der Übermacht Preussens über Deutschland und Europa Krieg und Unglück kommen.

Die Geschichte gab ihm auch in dieser Hinsicht recht.

Ja. Hier sieht man, dass Geschichte auch prognostisch wirken kann. Es gibt von ihm eine wunderbare Formel über den Nutzen des Studiums der Geschichte. Man werde nicht klug für morgen, aber weise für immer. Es zog ihn auf jeden Fall schon früh nach Basel zurück, wo er sehr viel später den ebenfalls gegenüber Preussen kritischen Friedrich Nietzsche kennenlernte, der als damals jüngster Universitätsprofessor Basels von Leipzig hierhergekommen war. 

Der wahrscheinlich letzte Brief des gerade noch gesunden Nietzsches zeugt von überschäumender Verehrung und endet mit: «In herzlicher Liebe, Ihr Nietzsche».

Zwischen den beiden Gelehrten entwickelte sich eine Freundschaft. Nietzsche hat Jacob Burckhardt sehr bewundert. Sie werden wohl viele Gespräche geführt haben, auf einer Vielzahl von Ausflügen und langen Spaziergängen. Es gibt eine Reihe von ausserordentlich verehrungsvollen Briefen von Nietzsche an Jacob Burckhardt. Diese wurden jedoch nicht in gleichem Masse beantwortet. Jacob Burckhardt war immer sehr viel nüchterner und zurückhaltender. Doch er war dem Philosophen in seiner grossen Lebenskrise eine wichtige Stütze. Der wahrscheinlich letzte Brief des gerade noch gesunden Nietzsches (Anm. d. Red.: der Philosoph erlitt 1889 einen psychischen Zusammenbruch und war in der Folge geistig umnachtet) zeugt von überschäumender Verehrung und endet mit: «In herzlicher Liebe, Ihr Nietzsche». 

Man kennt das berühmte Bild von Jacob Burckhardt, wie er mit der grossen Mappe über den Münsterplatz geht. Wie hat der Wissenschaftler in Basel gelebt?

Sehr bescheiden. Abends ging er alleine ins Wirtshaus. Das war etwas, das in Basel damals unüblich war. Wenn man ausging, dann in Gesellschaft. Doch er trat anders in der Öffentlichkeit auf. Er hielt öffentliche Vorlesungen, die viele Menschen anzogen. Mühelos kamen bis zu 250 Zuhörer. Er war bekannt für amüsante, lustige und kluge Vorlesungen. Zum Beispiel auch über profan anmutende Themen wie «Die Kochkunst der frühen Griechen». Er hat in Basel eine bildende Rolle gespielt. Man kannte den Mann mit der Mappe und die durch sie signifikante Leidenschaft für Fotografie. 

So kannte man Jacob Burckhardt in Basel: Mit der grossen Ledermappe hier vor dem Basler Münster. (Wikimedia / Anton) 

Das war zu jener Zeit auch sehr fortschrittlich.

Er war absolut modern. Jacob Burckhardt war der erste, der im Unterricht vom Bild aus ging und nicht von einer Beschreibung. Er hatte über zehntausend Fotografien gesammelt. Wichtige Kunstwerke wollte er als Fotografie haben, weil die Fotografie unparteiischer als eine Skizze oder ein Abzeichnen sei.

Von ihm führt, wenn man so will, ein gerader Weg zu den kunsthistorischen Lichtbildvorträgen, vielleicht sogar zu den heutigen Power-Point-Präsentation. Wobei er allerdings gegen die Kombination von Bild und Text gewesen wäre.

Er hielt Vorträge und Vorlesungen grundsätzlich frei. Er merkte sich die entscheidenden Schritte seines Konzeptes und war völlig überzeugt „vom allmählichen Verfertigen der Gedanken beim Reden“, wie es bei Kleist heisst. In Basel war dieser Stil wohl damals völlig neu. Burckhardt bezog ihn von dem Theologen und Philosophen Friedrich Schleiermacher, der für den akademischen Vortrag das „Miterleben“ als entscheidendes Mittel der Gedächtnisbildung im Publikum empfohlen hatte. Und Burckhardt kam in der Tat bei seinem Publikum in Basel sehr gut an. Er liebte das Basler Publikum und das Publikum liebte ihn. 

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