Umgekehrter Sextourismus: Immer mehr Frauen werden in Europa hin- und hergeschoben. Bild: Keystone
Umgekehrter Sextourismus: Immer mehr Frauen werden in Europa hin- und hergeschoben. Bild: Keystone
  • Andy Strässle
  • Aktualisiert am

Milieu-Express: Frauen von Ungarn nach Basel verfrachtet

Zwei ungarische Sexworkerinnen schwitzen am Sonntagabend am Basler Bahnhof. Sie haben sich verirrt und sind noch nicht lange genug da, um die Seitenstrassen im Quartier auseinanderhalten zu können. Das «Geschäft mit der Liebe» hat die europäischen Prostituierten zu Nomadinnen gemacht.

Gegen halb Acht am Sonntagabend thront die Sonne noch heiss und gleissend über dem hinteren Ausgang des Bahnhofs. Die beiden jungen Frauen kichern, ein bisschen verlegen. Sie fallen nicht auf, wie alle sind sie sommerlich leicht bekleidet. Die beiden waren am Bahnhof einkaufen. Brot, Käse, etwas Aufschnitt und ein paar Softdrinks. Die Sonne blendet, als sie aus der Passerelle kommen. Rika und Sofia wissen nicht mehr genau, in welcher Seitenstrasse sie wohnen. Überraschend auch, der Name der kleinen deutschen Stadt, aus der sie vor drei Wochen nach Basel herangekarrt worden sind, fällt ihnen spontan nicht mehr ein. Weder die kleine blonde und etwas redseligere Rika noch die hochgewachsene Sofia mit langem braunen Haar passen ins Klischee von Sexarbeiterinnen.

Alles legal

Seit der Einführung des Schengen-Abkommens 2004 können sich Frauen aus dem EU-Raum während drei Monaten in Basel legal prostituieren. Das Sexgewerbe nutzt das aus: Prostituierte sind durch und durch mobile und globalisierte Mitarbeiterinnen. Die man jederzeit dorthin karren kann, wo man sich Geschäfte erhofft. Laut einer Studie des Bundesamtes für Polizei (Fedpol) von Anfang Jahr bieten sich die Frauen den Salons und Bordellen selbst an oder werden ihnen von Vermittlern vorgeschlagen.    

Ihre T-Shirts hängen modisch bedruckt über die kurzen Jeans-Shorts, sie wirken wie die anderen jungen Frauen am Bahnhof auch. Beide Frauen sprechen gut Deutsch. Auch um ihr Englisch könnte man sie beneiden. Aber am Sonntagabend wissen sie nicht mehr in welche Seitenstrasse im Gundeli sie eigentlich müssen. «Dort wohnen wir, aber diese Querstrassen sehen alle gleich aus», sagt Rika. Sofia neigt ihren Kopf und meint, sie hätte doch gleich gesagt, sie hätten auf dem Weg nicht so viel reden sollen. In einer Anspielung auf Hänsel und Gretel meint Rika, sie hätten ja gleich Brotkrumen streuen können, dann hätten sie sich nicht verirrt. «Wir waren in Karlsruhe, aber dort lief das Geschäft nicht so richtig, darum hat man uns nach Basel gebracht». Ganz sicher, ob sie von dort kommen, sind sie aber nicht. Irgendwann seien sie auch einmal in Sindelfingen gewesen.

Umsatz über alles

«So ist das Geschäft, einmal ist man hier, einmal ist man dort.» Es komme auf den Umsatz an. Ursprünglich kämen sie beide aus Ungarn. Dort gebe es keine Arbeit, auch nicht, wenn man studiert habe. Ausser man habe Beziehungen. Sie sagen, mit einem eher düsteren Lachen: «Dort gibt es zu viele Frauen, da kann man nicht arbeiten. Da muss man schon froh sein, wenn man nicht Filme machen muss.» «Filme machen», dass sei einfach das Schlimmste. Es seien keine schönen Filme und bei denen müsste eine Frau einfach alles mitmachen. Es sei widerlich. Dagegen hätten sie es gut. Auch wenn sie alle paar Wochen an einem anderen Ort landen würden. Die europäische Polizei, Interpol, sieht die Sache etwas weniger locker als die Schweizer Bundespolizei und als die beiden Frauen. 70 Prozent des Menschenhandels finde nun zwischen den einzelnen EU-Staaten statt. Dabei handle es sich bei 90 Prozent der «Ausbeutung» dieser Menschen um «sexuelle Dienstleistungen». Fast zwei Prozent davon beträfen dabei gar Minderjährige.

Kriminelle Strukturen, oft gewaltbereit

Interpol geht auch streng mit den kriminellen ungarischen Strukturen ins Gericht. Oft seien es kleine, familiäre Organisationen, die vor Gewalt nicht zurückschrecken würden. Vom Internet würden sie geschickt Gebrauch machen, um «ihre Ware» in verschiedenen Ländern anzubieten. «Es ist eine Agentur, wir werden vermittelt, aber darüber können wir nicht reden. Das ist besser. Aber es ist nicht schlimm. Man behandelt uns gut», sagt Rika. Aber mehr nicht. Es ist Sonntagabend. Die jungen Frauen haben frei, es sei zu wenig los, sagen sie fast gleichzeitig. Der «runde Tisch» von Polizeidirektor Baschi Dürr stellt in Basel unterdessen fest, dass von gesamthaft 2015 Sexworkerinnen, die sich jährlich in Basel unter dem Mantel von Schengen anmelden, 931 aus Ungarn (46 Prozent) stammen. Am zweitmeisten Frauen mit 300 kommen aus Deutschland, am drittmeisten aus Spanien mit 275. Gesamthaft gehen in Basel 6'887 Meldungen im Jahr ein. Ein Zeichen, dass die Frauen nach den erlaubten drei Monaten immer wieder nach Basel zurückkehren.

Die Dimension des hiesigen Sexgewerbes ist erstaunlich: Pro Tag verkaufen rund 800 Frauen «Liebe». Die meisten von ihnen arbeiten in einem der rund 194 Salons oder Bordellen im Kantonsgebiet. In der Kleinbasler Toleranzzone bei der Weber- und Ochsengasse seien es laut Polizei täglich zwischen dreissig und vierzig Prostituierte. Neben den Frauen im «Meldeverfahren» seien im Milieu weitere 1'300 Damen aktiv. Das sind rund 3'300 Personen, die der Stadt bekannt sind und sich prostituieren.

Stilles Gewerbe

Im kurzen Gespräch bestätigen auch Rika und Sofia, dass es – mindestens in Basel und in deutschen Kleinstädten – ein stilles Gewerbe sei. «Es gibt wenig Ärger, es kommt auch darauf an, wo man arbeitet. Aber es gibt selten Probleme», sagt Rika. Viele Männer seien vor allem «dankbar». Sofia schaut die Freundin eher misstrauisch an, scheint die Meinung nicht ganz zu teilen, will am Ende aber nichts dazu sagen. Es brauche etwas Glück, eine Frau müsse sich einer guten Agentur anschliessen können, sodass man sich an einem neuen Ort gut zurecht finden könne. Dass geschaut werde, dass die Arbeitsbedingungen stimmen würden, meint Sofia. Sie habe auch schon mit «Idioten» zu tun gehabt. Darauf habe sie keine Lust mehr. Vor einem Jahr sei sie für zwei Wochen im Spital gelandet, weil sie ein Freier verprügelt hat und niemand dagewesen war, der ihn rausgeworfen habe. In München sei das gewesen. «Dann habe ich noch zwei Wochen geweint, es war schlimm.» Rika kennt die Geschichte der Freundin, sie meint solidarisch: «Es kann jederzeit kippen mit den Männern, es ist immer ein Risiko.»

Sinkende Preise

Für die Basler Beratungsstelle «Aliena» ist klar, dass der Markt heiss umkämpft ist. Die Leiterin Viky Aeberhard weist bei jeder Gelegenheit daraufhin, dass bei so vielen Frauen die Preise sinken und dafür die gesundheitlichen Risiken steigen würden. Dass sich die Freier für die durchschnittlichen 60 Franken alles herausnehmen würden, da immer mehr Frauen um die Männer kämpfen würden. Positiv sei gleichzeitig, dass die «illegale» Prostitution zurückgegangen sei. Nur, wenn die Sexworkerinnen legal arbeiten dürften, so könnten sie auch ihre Rechte geltend machen. 

Legale Prostitution ist in Basel unbestritten, daran wolle man festhalten, bekennt Polizeidirektor Dürr. Mit dem runden Tisch verfüge man über ein Mittel, die Situation jederzeit unter Kontrolle zu behalten. Weder Rika noch Sofia können jedoch spontan beantworten, wie und warum sie an diesem Sonntagabend in Basel gelandet sind. «Wahrscheinlich haben wir vorher zu wenig Umsatz gemacht. Aber so genau wissen wir das nicht. Hier ist es jedenfalls auch ziemlich ruhig.» Eine Ruhe, die sie beide nicht wirklich zu stören scheint. 

«Weisst Du, wenn man noch jung ist, so kann man diese Arbeit schon machen. Wahrscheinlich werde ich es später anstrengender finden», erklärt Sofia. Anders als Rika glaubt sie, dass sie bald zu alt sein wird. «Die Männer wollen immer jüngere Frauen. Da geht die Zeit schnell vorbei. Glaub' mir.» Deprimierend wäre diese Aussage so oder so. Aber noch deprimierender ist, dass Sofia im Herbst ihren 25 Geburtstag feiern wird.

Eine barfi.ch-story zum Rotlichtviertel Ochsen-, Webergasse finden Sie hier.