Darf er oder darf er nicht? Der türkische Präsident Erdogan will mehr Macht in seinem Amt. ©Keystone
Darf er oder darf er nicht? Der türkische Präsident Erdogan will mehr Macht in seinem Amt. ©Keystone
  • Andreas Schwald / Binci Heeb
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Pulverfass-Stimmung: Basler Türken müssen mit Bus nach Bern oder Zürich zur Wahl

Nicht nur müssen die Türken jetzt darüber abstimmen, ob ihr Präsident Recep Tayyip Erdogan noch mehr Macht erhalten soll. Sie müssen dafür auch nach Bern oder Zürich. Um an dieser wichtigen Abstimmung teilzunehmen, organisieren die Basler Türken ganze Bus-Transporte nach Zürich und Bern.

Für die Türken ist es eine Jahrhundert-Abstimmung. Am 16. April geht es darum, ob ihr Präsident Recep Tayyip Erdogan eine weitere Fülle an Machtbefugnissen erhalten soll oder nicht. Unter anderem soll Erdogan gleichzeitig Staats- und Regierungschef werden; das Amt des Ministerpräsidenten und der Ministerrat würden als eigenständige Organe abgeschafft. Zudem dürfte Erdogan neu einer Partei angehören, dieser vorsitzen und seine eigenen Stellvertreter und Minister ohne Parlamentsanhörung bestimmen.

Kritiker befürchten einen Zustand von diktatorischem Ausmass in der Türkei, sollte die Vorlage angenommen werden. Befürworter hingegen jubeln Erdogan zu und erachten die Stärkung seines Einflussbereiches als unabdingbar für die Zukunft des Landes. Das führt auch in der Region zu heftigen Kontroversen: Am Freitagnachmittag verbot die Baselbieter Polizei eine Pro-Erdogan Veranstaltung in Reinach, die am gleichen Abend hätte stattfinden sollen. Die öffentliche Sicherheit könnte gefährdet sein, hiess es. Bereits zuvor wurde von türkischen Spitzeln unter anderem an Schweizer Universitäten berichtet, die regimekritische Türken beobachten sollen; die Uni Zürich verstärkte daraufhin den Kampf gegen diese Tätigkeiten.

Eine Pulverfass-Stimmung auch in Basel

Die Situation ist aufgeladen. Dabei sind die Urnen für die in der Schweiz lebenden Türkinnen und Türken erst ab Montag, 27. März, geöffnet – und das bis am 9. April. Es gibt in der ganzen Schweiz nur zwei Orte, wo türkische Stimmbürger ihr Votum abgeben können: In der Botschaft in Bern und im Konsulat in Zürich. Weitere Möglichkeit gibt es nicht – im Gegensatz zu Deutschland, wo die Regierung landesweit 13 zusätzliche Abstimmungslokale genehmigte. Brieflich abstimmen ist nicht möglich. Die Auflagen sind streng: Ins Lokal spazieren geht nicht, man muss sich registrieren.

Ein komplexes Unterfangen, wie die türkischstämmige Basler SP-Richterin Derya Tokay-Sahin sagt. Sie selbst gehe nach Zürich, um ihre Stimme abzugeben. Als Juristin ist sie «sehr skeptisch», was passieren würde, wenn Erdogan noch mehr Rechte erhalte. Er würde bereits jetzt tun und lassen, wie und was ihm gefällt und hätte Familienmitglieder in wichtigen Positionen.

Ein Präsident mit allen Befugnissen ist laut Tokay-Sahin «sehr gefährlich»: «Die Auswirkungen sind noch nicht absehbar.» Im Moment getraue sich in der Türkei kaum jemand etwas zu sagen. Die Diskussion finde deshalb im Ausland statt. Sie selbst sei sehr offen gegenüber allen kulturellen und politischen Ausprägungen, vermeide aber derzeit die Diskussion sogar mit Bekannten, da die Freundschaft darunter leiden könnte. Komme hinzu: Die diversen Gruppierungen seien zurzeit sehr aggressiv. Diese Einschätzung teilte die Baselbieter Polizei, als sie den von den «grauen Wölfen» organisierten Anlass vom Freitagabend in Reinach untersagt hatte.

Ganze Busse fahren von Basel nach Zürich und Bern

Zwei Lokale also für eine Abstimmung von historischem Ausmass: Die rund 95'000 in der Schweiz lebenden wahlberechtigten Türkinnen und Türken werden sich organisieren müssen. Was sie in Basel tun: Die Gemeinschaft sei sehr solidarisch, sagt BastA!-Nationalrätin Sibel Arslan. Bereits beim letzten Urnengang seien Busse und Fahrgelegenheiten organisiert worden. «Aus Basler Perspektive ist mit einer gewaltigen Mobilisierung zu rechnen», sagt sie.

Die türkische Gemeinschaft in der Schweiz ist äusserst divers; sämtliche kulturellen und politischen Ausprägungen sind vertreten. Ein Unterschied gerade zu Deutschland ist allerdings, dass in der Schweiz in der Vergangenheit vor allem eine Vielzahl an Asylverfahren aus politischen Gründen durchgeführt wurde. Im Gegensatz zur Arbeiterbewegung im Nachbarland ist die Schweizer Gemeinschaft daher eher politisch und auch kritisch eingestellt und zudem von einem starken, eher oppositionellen und akademischen Einschlag geprägt.

Basel hat viele kritische Oppositionelle, Kurden und Aleviten

Hinzu kommt, dass Basel-Stadt über eine grosse kurdische Gemeinschaft verfügt, die ohnehin regierungskritisch eingestellt ist. Auch die in der Türkei oft ausgegrenzte alevitische Gemeinschaft ist im Stadtkanton mittlerweile gut verwurzelt: Gerade in Basel stellt die türkischstämmige Gemeinschaft mit alevitischem Hintergrund immer wieder Grossräte und andere linke politische Würdenträger, darunter Richterin Derya Sahin oder Grossrat Mustafa Atici von der SP und Nationalrätin Sibel Arslan von der BastA!.

Wie das Resultat der Macht-Abstimmung aussehen wird, ist nicht abzusehen, weder aus Schweizer, noch aus internationaler Perspektive. Zu laut ist der Lärm des Wahlkampfs, zu aggressiv die Propaganda beider Seiten. Angesichts der bekanntgewordenen Überwachung und Einschüchterung von Schweizer Türken durch regierungsfreundliche Kreise ist allerdings davon auszugehen, dass gerade von Auslandtürkinnen und -türken ein stark regierungskritisches Votum zu erwarten ist.

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