Bild: Keystone
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  • Jonas Egli
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Tel. 117, 144, 112: Der Notruf Basels ruft nun selbst nach Hilfe

Ob Krankenhaus oder Polizei, Basels Notrufstellen vermelden einen Anstieg bei Einsätzen sowie in den Wartebereichen. Man steckt in einem Dilemma und ruft selbst um Hilfe. Die herrschenden Umstände verlangen Mithilfe jener, welche sich statt in Panik zu geraten fragen: Muss ich wirklich den Notruf wählen?

Klar ist jedem: Eine Notrufnummer sollte nur in gesundheitlich schwer bedrohlichen, akuten Ausnahmefällen gewählt werden. Oder zur Verhütung von Straftaten, aber auch deren Verfolgung. Sollte. Denn was genau bedrohlich ist, was tatsächlich bevorsteht und was nicht, kann nicht einheitlich beantwortet werden. Berühmt geworden ist die Liebeserklärung eines Mannes vor Jahren, der sich auf den Knien ans Herz fasste und damit einen eher unromantischen Notarzteinsatz auslöste. Man dachte, der Mann hätte einen Herzanfall. Aktuell ist es gerade die Geschichte einer Frau in Chur die nach der Polizei rief, weil sie eine Spinne in ihrem Bett vorfand.

Mehr Menschen in Not

Offensichtlich fühlen sich mehr Menschen in Not als früher. Das Justiz- und Sicherheitsdepartement Basel-Stadt vermeldet einen deutlichen statistischen Anstieg solcher Einsätze bei Polizei, Feuerwehr und Notarzt, der über das tatsächliche Bevölkerungswachstum hinausgeht. Die Notarzteinsätze haben sich seit 2003 fast verdoppelt. Und die Notaufnahme des Universitätsspitals Basel (USB) ist an gewissen Tagen genauso unverantwortlich voll wie die Wartezeit: Im Vergleich zum Jahr 2006 haben 2016 ein Drittel mehr Personen den Weg in die Notaufnahme gewählt.

Auch Polizeianrufe wegen Verbrechen nahmen deutlich zu. Bloss: Von 572 ausgelösten Einbruchalarmen geschahen gerade einmal 28 zurecht.

Zum Davonlaufen: In der Notaufnahme der UKBB ist es eng geworden. Bild: Keystone

Im Kinderspital wird's eng

Alarm schlägt nun das Kinderspital: Die Notfallstation des Universitäts-Kinderspitals beider Basel (UKBB) stösst an ihre Grenzen, zu Spitzenzeiten müssen zusätzliche Räume umfunktioniert werden, um den Ansturm bewältigen zu können. Davon ist ein sehr grosser Anteil kein Notfall und hätte auch von einem Hausarzt behandelt werden können. Manche Quellen sprechen von 80%. Die Folgen sind nicht unerheblich: Die Wartezeiten verlängern sich und der Druck auf die diensthabenden Ärzte steigt, was Fehler zur Folge haben kann.

Nicht nur Lappalien

Doch nicht immer sind es Lappalien: Im Falle des Universitätsspitals hat der Anstieg der Notfälle eine Interpellation ausgelöst, die der Sache auf den Grund gehen wollte. Diese ist zwar vor allem an den Kosten interessiert, die Antwort vom 30.10.2017 bringt aber eine erstaunliche Tatsache zu Tage: Beim USB sind es gerade nicht die Bagatell-Fälle, sondern die Zahl der Schwerkranken, die steigt. Das USB spricht von 40% «leichten» und nur 2.5% «völlig unnötigen» Fällen. Der Rest ist schwerkrank oder schwerverletzt.

Zudem ist die Einteilung in «dringend» oder «kann warten» nicht immer klar: Selbst von der UKBB wird die hohe Zahl der nicht notwendigen Konsultationen nur ungern kommentiert oder gar bestätigt. Die Beurteilungssyteme der Notfälle von USB und UKBB sind zwar ähnlich, aber eben nicht gleich. Auch wenn sich nicht wenige Gebrechen als ungefährlich herausstellen, will Dr. Michel Ramser, Leiter der interdisziplinären Notfallstation im UKBB, die Sorgen der Patienten ernst nehmen. Dasselbe gilt auch für die Rettung: «Grundsätzlich gilt, lieber einmal zu viel anrufen und etwas melden als einmal zu wenig», wie Adrian Gaugler, Mediensprecher der Polizei Baselland, meint. Und wer ruft, erhält auch Hilfe.

Im Fall des knienden Saarbrückers sind es die Aufpasser selbst, die im Zweifelsfalle rasch reagieren müssen, bei der Churerin ist es die Panik vor einem Insekt, die den Einsatz auslöst. Die Einsatzkräfte können nicht warten, bis der Kniende umfällt und eine echte Panikattacke fühlt sich womöglich wirklich bedrohlich an. Da die Frau niemanden erreichen konnte, rief sie zum Schluss die Polizei. Solche Fälle seien kein Problem, sondern gehören zum Geschäft. Dass Eltern auf die Gesundheit ihrer Kinder sensibilisiert sind, dafür hat auch Ramser Verständnis: «Sie haben ein Kind, das schreit und nicht aufhört, typischerweise ist es zehn Uhr abends und der Hausarzt nicht erreichbar, da steigt der Beunruhigungsgrad sehr rasch und die Leute kommen zu uns.» 

Sind wir alle Hypochonder?

Die Standortbestimmung «Polmedinform» des JSD vom April 2017 versucht, die Zahlen zu erklären. Der erste Punkt auf der ersten Seite: Die hohe Zahl der Noteinsätze 2016. In der Broschüre steht, dass der Anstieg vor allem auf gesellschaftliche Veränderungen zurückzuführen sei, wie die Entwicklung zur 24-Stunden-Gesellschaft, bei gleichzeitiger Zunahme von alten Menschen. Die Jungen sind mobil und vielbeschäftigt und wissen sich (oder ihrem Kind) nicht mehr selbst zu helfen. Die Eltern wohnen in einer anderen Stadt, ebenfalls alleine. Dass diese Gruppen dann den Notruf wählen, sei verständlich, wie Toprak Yerguz, Mediensprecher des JSD, erklärt. Eher versucht man, die verhandenen Ressourcen besser auszunützen, (zum Beispiel mit der Sanitätspartnerschaft der Halbkantone ab 1. Januar 2018), als Hilfesuchende abzuweisen. Auch Dr. Ramser hält daran fest: «Wer herkommt, wird auch untersucht. Wir schicken niemanden heim.» Die Verantwortung liegt also bei uns, bei denen, die schlussendlich entscheiden müssen, ob die Situation einen Anruf erfordert.

Zu spät ist auch nicht gut. Wenn's brennt, dann brennt's. Bild: Keystone

Credo: Erst anrufen, dann anklopfen

Und sie ist gross, wie beim Blick über die Grenze zu sehen ist: In Deutschland drohen die Verhältnisse aus dem Ruder zu laufen. Wenn von zehn Einsätzen nur ein bis zwei Notfälle sind, dann werden irgendwann Massnahmen gefordert, die Auswirkungen auf alle haben. Keine Frage: Weder die Rettung der Stadt noch die Notaufnahmen der Krankenhäuser wollen die Leute davon abhalten, sich Hilfe zu holen. Auch deswegen möchte man von Strafen für Fehlalarme absehen und nimmt die Betrunkenen hin, die den Notruf wählen, weil sie den Dönerladen nicht finden. Michel Ramser rät dazu, zuerst die Helpline zu konsultieren, statt gleich persönlich vorstellig zu werden. Zudem gibt es eine Reihe von Nummern, die in vielen Fällen dem Blaulichteinsatz ((112/117/118/144) vorzuziehen sind, wie die Strassen-Pannenhilfe (140), die Dargebotene Hand (143), die Vergiftungs-Notfallnummer (145), die Beratung für Kinder und Jugendliche (147), und so weiter. Auch den Hausarzt oder das Spital selbst zu konsultieren, bevor man mit dem eingerissenen Nagelhäutchen bei der Notaufnahme anklopft, ist als erste Massnahme vorzuziehen.

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