Bild © Cie Gilles Jobin 2017
Bild © Cie Gilles Jobin 2017
  • Jonas Egli

Die Flucht nach vorne: Das HeK inszeniert kurzzeitig Gilles Jobins virtuelle Realität

Genug vom Basler Alltag? Genug von der Welt? Die Nase voll von der Realität? Dann flüchten Sie! Im «Haus der elektronischen Künste» ist das noch bis Sonntag möglich. Gilles Jobins Installation «VR_1» sprengt den Rahmen von dem, was Sie bisher als virtuelle Realität gekannt haben.

Gilles Jobin ist ein Schweizer Tänzer und Choreograph, dessen neuestes Stück sich der physischen Welt gänzlich entzieht. Den Tanz «VR_1», den er mit vier Tänzern und Tänzerinnen einstudiert hat, ist nur für jene zu sehen, die sich im Keller des HeK im Dreispitz einen Computer auf den Rücken schnallen und sich mit Sensoren, VR-Brille und Kopfhörer in die digitale Welt begeben, welche das Genfer Studio Artanim zusammen mit Jobin erschaffen hat.

Von aussen sieht das ulkig aus. Bis man selbst drin ist. Bild: barfi

Zuerst aber sieht man dem ungeschickten Tanz der vorherigen Besucher zu, welche von der ganzen Technik offensichtlich so eingenommen sind, dass sie den Kellerraum bereits in den ersten Sekunden vergessen haben. Sie greifen nach Dingen und tanzen mit Figuren, die nur sie sehen. Sie krabbeln über den Boden und reissen den Kof nach oben, wo es doch nur eine Betondecke zu sehen gibt. Während der Wartezeit versorgt ein Infoblatt uns mit Anweisungen: «Die Grenzen des Raumes sind empfindliche Bereiche. Vermeiden Sie den Aufenthalt am Rande des Spielfeldes.» So schwer kann das ja nicht sein, oder? Bis die Reihe an uns ist. Zu fünft lassen wir uns in das Netz der Technik einspinnen und treten kurz darauf ein.

Bild © Cie Gilles Jobin 2017 

Zu Beginn befindet man sich in einer Kristall-Höhle, wie sie für virtuelle Kunstprojekte fast schon typisch ist, doch dann wird die Höhle von einem Riesen weggehoben, es ist Gilles Jobin selber, und man steht mitten in der Wüste, umgeben von Riesen, die sich bedrohlich über die Gruppe beugen. Die Besucher können sich gegenseitig sehen und über Mikrophone miteinander sprechen. Doch gegen diese Gestalten haben wir auch als Team keine Chance. Später bauen die Riesen uns eine Wohnung und am Ende tanzen in einem Stadtpark Jobins Tänzer um uns herum. Mehrfach muss ich mit zurückhalten, um nicht einfach entgegen der Weisung in die Welt hinauszurennen. VR\_1, das ist schnell klar, ist nicht virtuell, denn es gibt einen gewaltigen Unterschied: Man erhält einen Körper. Das Infoblatt hat es schon vorweggenomen, aber bereitet mich nicht darauf vor, wie es sich anfühlt.

Jede digitale Welt hat irgendwo eine physische Nabelschnur. Diesmal: Reflektoren für Hände und Füsse. Bild: barfi

«Die TeilnehmerInnen sehen ihren eigenen Körper und den der anderen als Avatare.» Meiner ist der einer Frau mit fragwürdigem Kleidergeschmack: lachsfarbene Springerstiefel & regenbogenfarbige, verwaschene Leggins, dazu eine weisse Bluse mit grünen Stickereien. Einen Spiegel gibt es nicht. Die letzte Maniküre liegt wohl schon länger zurück. Aber vielleicht bin ich ja der Banause, denn schliesslich wurden die digitalen Kostüme vom Modedesigner Jean-Paul Lespagnard entworfen. Und der wird schon wissen, was er tut. Das Gefühl, in einem anderen Körper zu stecken, ist jedenfalls eigenartig und befreiend zugleich, es verbindet das Gesehene mit dem Gefühl der Bewegung im Raum und wird dadurch doppelt so immersiv. Ich bin hin und weg.

Keine Sorge, die schrumpfen noch. Bild © Cie Gilles Jobin 2017 

Forscher, die sich mit künstlicher Intelligenz auseinandersetzen, haben schon länger erkannt, dass ohne Körper kein Bewusstsein möglich ist. Und so war es auch bei bisherigen virtuellen Welten: Egal wie beeindruckend und glaubwürdig die Welt auch ist, das Fehlen eines Körpers lässt einen als eigenartig schwebenden Kopf in der Welt zurück. Und zudem auch noch alleine. Egal wie gut die Simulation, ohne Körper bleibt man Zuschauer. Hier aber ist man drin.

Trailer VR_I from HeK on Vimeo.

Kaum haben wir die Technologie erfunden, um virtuelle Welten zu erschaffen, ist der Name bereits wieder falsch. Wie eine Teilnehmerin feststellt, ist daran nämlich, streng genommen, rein gar nichts virtuell. Es ist vielmehr eine digitale Realität. Die Brochure hatte noch gewarnt: «Bei Unbehagen die Brille abnehmen, um sofort wieder in die Realität zurückzukehren.» Was man aber tut, wenn man bleiben möchte, verrät das Pamphlet nicht.

VR_1 ist noch bis morgen Sonntag zu sehen. Weitere Informationen finden Sie auf der Webseite des Haus der elektronischen Künste.