Psychotherapeutin und Freitodbegleiterin Rita N Schulthess ©RNS
Psychotherapeutin und Freitodbegleiterin Rita N Schulthess ©RNS
  • Binci Heeb
  • Aktualisiert am

Rita N. Schulthess, Freitodbegleiterin

Die Organisation EXIT steht für Selbstbestimmung im Leben und im Sterben. Mit über 110'000 Mitgliedern – allein im vergangenen Jahr kamen 10'000 Personen hinzu – ist sie die grösste Vereinigung der Schweiz. 2017 half sie 734 schwer leidenden Menschen beim selbstbestimmten Sterben.

Barfi.ch hat mit der Freitodbegleiterin Rita Norma Schulthess aus Liestal über ihre Beweggründe, Freitodbegleitung anzubieten, gesprochen. Sie wurde 2013 (1 Jahr) von Exit Deutsche Schweiz zur Freitodbegleiterin ausgebildet, bildet sich jährlich an rund 10 Tagen weiter und ist seither als ehrenamtliche Freitodbegleiterin für den Verein im Einsatz.

barfi.ch: Weshalb sind Sie Freitodbegleiterin geworden?

Freitodbegleiterin ist kein Beruf. Beruflich bin ich Psychotherapeutin, Unternehmerin und ehrenamtlich für Exit auf Anfrage und nach meinen zeitlichen Möglichkeiten tätig. Persönlich gab es mehrere Faktoren, die mich diesen Entscheid fällen liessen. 

Können Sie diese näher erörtern?

Es ging um meine persönliche Entwicklung, ein lebenslanges Lernen und fortwährende Retrospektion (Selbsterkundung), neue Räume zu betreten und zu erkunden. Auch bedingt durch meine Beschäftigungen als Psychotherapeutin.

Der Buddhismus ist seit 30 Jahren meine Lebensphilosophie und hier vorallem die Meditation. In fortgeschrittener Praxis der Meditation kann die Aufgabe bestehen, immer wieder seinem Tod zu begegnen und ihn zu erleben. Als ich diese Phase mehrere Jahre durchlebt hatte und der Verein Exit (bei welchem ich schon länger Mitglied war) zur gleichen Zeit Freitodbegleiterinnen suchte, entschied ich mich, mich auch mit dem realen Tod im Hier und Jetzt auseinanderzusetzen. Als Freitodbegleiterin.

Zu etwa gleicher Zeit hatte ich eine Klientin als Sterbebegleiterin betreut und 5 Tage in ihrem Sterbezimmer gewacht und alle Phasen eines längerdauernden Sterbens erlebt. Da wusste ich, dass das Sterben, der Tod mir keine Ängste bereitet.

Gab es auch politische Überlegungen?

Die 68-er Bewegung hat mich geprägt. Selbstbestimmung ist richtig und wichtig. Auch im Zeitpunkt des Leidens und der Schmerzen, möchte ich autonom entscheiden dürfen. Freitodbegleiter können mir dabei helfen. Ich verstehe dies auch als Engagement für den Menschen, der Gesellschaft und der Menschlichkeit.

Wie viele Freitodbegleitungen haben Sie bisher gemacht?

Ich führe dazu keine Statistik. Sie können davon ausgehen, dass ich pro Monat durchschnittlich 2-3 Fälle von Exit übernehme. Das bedeutet dann Prüfung der Unterlagen auf gesetzliche Konformität, Besuch und Gespräche mit der sterbewilligen Person und ihren Angehörigen, fehlende ärztliche Gutachten oder andere Unterlagen zusammentragen, bis zu dem Moment, wo dann alle Unterlagen und die Bereitschaft des Menschen zum Sterben «reif» sind. Was aber nicht heisst, dass es dann zu einer Freitodbegleitung kommt. 

Ich betreue viele Menschen, die sich entspannen, wenn sie wissen, sie könnten jetzt den Weg des Freitodes gehen und sich dann letztlich doch entscheiden noch weiterzuleben. Manchmal kommt es in dieser Phase auch zum natürlichen Tod. 

Da ich ehrenamtlich für Exit tätig bin, bin ich zur Freitodhilfe nicht verpflichtet. Also mache ich auch Ferien oder bin mit meinen beruflichen Aufgaben beschäftigt. In solchen Phasen teile ich zum Beispiel der Administration Exit im Voraus mit, dass ich für die nächsten 2 Monate keine neuen Betreuungen übernehme.

Im Zusammenhang mit dem Strafverfahren gegen die in Liestal tätige Ärztin und Sterbebegleiterin Erika Preisig, die das Sterbemittel Natrium-Pentobarbital nicht mehr selber in der Apotheke beziehen darf, sei mir die Frage erlaubt, wie EXIT und Sie das Medikament beziehen?

Nachdem ein Arzt das Rezept für das Sterbemittel ausgestellt hat, kann die Begleitung am vom Sterbewilligen gewünschten Termin stattfinden. Das Rezept auf den Namen des Patienten wird von EXIT oder einer Vertrauensperson des Sterbewilligen mit Vollmacht eingelöst. Stellvertretend für den Patienten wird dann das Mittel zum vereinbarten Sterbetermin zum Sterbewilligen gebracht. 

Wie lauft eine Freitodbegleitung ab?

Individuell und so wie es sich die sterbewillige Person wünscht. Es wird ein Tag und eine Tageszeit ausgemacht. Ich kläre vor Ort nochmals mündlich ab, ob der Sterbewunsch immer noch besteht. Mache darauf aufmerksam, dass jederzeit STOP gesagt werden kann und dass die Entscheidung immer rückgängig oder verschoben werden kann. Besteht der Wille zum Sterben immer noch, lasse ich mir diesen schriftlich mit einem vorgegeben Formular und Text noch schriftlich bestätigen. Unter Zeugen.

Der Sterbewillige bestimmt dann Tempo und Rhythmus bis zum Moment, wo er entweder das Sterbemittel trinkt oder den Infusionshahn eigenhändig öffnet. 

Ist der Tod eingetreten und nach Absprache mit den Anwesenden, ist dann der Moment gekommen, wo ich die 117 anrufe und den Freitod melde. Danach erscheinen dann die Polizei, die Staatsanwaltschaft und Gerichtsmedizin zur Prüfung der Situation und der Akten vor Ort. Diese Phase kann mehrere Stunden in Anspruch nehmen und meine Anwesenheit während dieser Zeit ist Pflicht. Ich kann erst durch das OK der fallführenden Staatsanwältin, Staatsanwalt, wieder nach Hause gehen.

Wollten Sie schon einmal den Sterbewunsch einem Sterbewilligen ausreden?

Ausreden impliziert für mich auch einreden können und deshalb ist die Bezeichnung ausreden in diesem Zusammenhang nicht angebracht. Als Freitodbegleiterin habe ich nichts aus- oder einzureden. Meine erste Aufgabe ist es, die Fakten zu prüfen (ärztliche Zeugnisse mit den Diagnosen einer Krankheit, die vorausgesetzt wird, um überhaupt einen Antrag auf Freitodbegleitung bei Exit stellen zu können). Im Gespräch mit diesem Menschen nehme ich meine zweite Aufgabe wahr, heraus zu filtern, ob der Sterbewunsch autonom, wohlerwogen und konstant ist und zu prüfen, ob ich mit der ärztlichen oder psychiatrischen Bestätigung der zwingend nötigen Urteilsfähigkeit einig gehen kann. Da kommen die Fähigkeiten meiner Diplomausbildung in Psychotherapie und meine fast 30-jährige Erfahrung in der Arbeit mit Menschen zum Tragen. Eine professionelle Haltung, die Empathie zulässt, mich Zwischentöne erkennen lässt und gleichzeitig die Abstinenzregel (kommt aus der Psychoanalyse und bedeutet, keine Übertragung von Absichten und Gefühlen des Therapeuten zuzulassen) nicht verletzt.

Meine Erfahrung mit Sterbewilligen zeigt, dass sie den Zeitpunkt für ihr Sterben gut erfassen, und somit entweder auf rasche Sterbehilfe beharren oder sich entscheiden, jetzt, wo alles vorbereitet ist, noch etwas warten zu können.  

Akzeptieren Sie jeden Grund?

Es ist nicht meine Aufgabe selber ein Wertesystem mit Gründen zu erstellen. Das Vorbereiten der Möglichkeit zu Freitod ist sehr komplex, gesetzlich genau beschrieben und festgelegt. Diagnose einer schweren Krankheit. Ohne äusseren Druck gefällt. Wohlerwogenheit. Konstanz des Sterbewunsches. Urteilsfähigkeit.

Es ist eine meiner Aufgaben genau hinzuschauen, ob eventuell Zwischenbereiche vorhanden sind, welche die oberwähnten Vorgaben nicht erfüllen oder eine Unklarheit dazu besteht. Dann ist es meine Pflicht diese Ungereimtheiten zu klären. Sei es durch zusätzliche medizinische oder psychiatrische Gutachten oder mehr Gesprächen. 

Gab es darunter auch kurzfristige «Rücktritte vom Sterbewunsch»?

Kurzfristig, wie ich es verstehe, NEIN, aber es gab schon Situationen, wo die Abklärung gestoppt wurde.

Was waren die Gründe dafür?

Zwei Mal in 5 Jahren wurden die Abklärungen aus Rücksicht auf die Kinder, die mit dem Freitod nicht einverstanden waren, gestoppt. 

Ein Mal wegen Verbesserung der Schmerzsymptomatik, als Folge einer gelungenen Operation, welche selber bezahlt werden musste, da es sich um eine noch nicht anerkannte OP-Technik handelte.

Was sind die Gründe für den Sterbewunsch?

Eine oder mehrere Krankheiten im terminalen Zustand, medizinisch keine weiteren Therapien möglich, eine Krankheit mit grossem Leiden, meistens Schmerzen und hoffnungsloser Prognose.

Sind die Menschen meist alt und betagt oder haben Sie auch schon jüngere Menschen in den Tod begleitet?

Die Menschen sind in den meisten Fällen über 80 Jahre alt.

Wie kommen die Menschen erstmals mit Ihnen in Kontakt?

Die Menschen nehmen nicht mit mir Kontakt auf. Die stellen zuerst bei Exit einen schriftlichen Antrag auf Freitodbegleitung und müssen gleichzeitig ihre ärztlichen Unterlagen (Hausarzt Zeugnis, Spitalberichte, usw.) bei Exit einreichen. Sie müssen auch Mitglied bei Exit Deutsche Schweiz sein. Die Administration Exit in Zürich erstellt eine Akte und frägt dann einen Freitodbegleiter, eine Freitodbegleiterin an, ob sie oder er Zeit hätte und die Akte zur Betreuung übernehmen würde.

Wenn ich also ja sage zu einer Betreuung, rufe ich dann diesen Menschen an, stelle mich vor und mache einen Termin für Hausbesuch und Gespräch.

Wie viele Gespräche führen Sie, bevor der Sterbetermin feststeht?

Das ist individuell und situationsbedingt.

Wo sterben die Menschen von Ihnen begleitet meist? Zu Hause, in einem Hospiz?

In den allermeisten Fällen zu Hause. Hospize lassen fast nie Sterbebegleitungen in ihrer Institution zu.

Gibt es eine Zunahme an Freitodbegleitungen?

734 Menschen entschieden sich im vergangenen Jahr für eine Leidensverkürzung mit Hilfe von EXIT. Damit nahmen im Jahr 2017 elf Mitglieder mehr die Hilfe einer Freitodbegleiterin in Anspruch als im Vorjahr (723). Zwar stiegen die Freitodbegleitungen im vergangenen Jahr leicht an, doch lagen sie immer noch klar unter jenen des Jahres 2015 (782).

Können auch Familienangehörige anwesend sein?

Immer, wer möchte. Es wird niemand ausgeschlossen. Freunde, Freundinnen, alle, die dabei sein möchten und die vom Sterbewilligen gewünscht sind. Ich habe schon Freitodbegleitungen mit bis zu 15 anwesenden Verwandten und Freunden erlebt. Die sassen um das Bett herum und haben ihrem Liebsten beim Sterben das Lieblingslied gesungen.

Ist der Sterbevorgang sehr unterschiedlich?

Nein. Freitod mit Natrium-Pentobarbital verläuft immer rasch, still und sanft. Sie erleben, wie ein Mensch zu einer Narkose schläft. Bei oraler Einnahme durchschnittlich ein paar  Minuten, bei Infusion weniger.

Wie verarbeiten Sie eine Freitodbegleitung?

Verarbeiten impliziert ein Trauma. Was es nicht ist. Durch tägliche, neurologische Meditation, Spaziergänge durch Wald und Natur, Stille und sauberer Luft an meinem zweiten Wohnsitz im Schwarzwald. Ich pflege eine Lebensbalance zwischen Arbeit und Auszeit. Meine Arbeit mit Menschen ist mir nicht Belastung, sondern stimuliert täglich Neugier und Lebensfreude. Ich weiss was mir und wann gut tut. Das ist lebenslanges «erkenne dich selbst».

Ich habe aus und durch meine Praxisarbeit gelernt, mit Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt zu sein und die Dinge genau zu unterscheiden, welche zu mir gehören und welche nicht zu mir gehören und trotzdem zugewandt bei den Menschen zu sein. Weiterbildung.